Lied der Liebe - Friedrich Hölderlin

1789

Engelfreuden ahnend wallen
Wir hinaus auf Gottes Flur,
Wo die Jubel widerhallen
In dem Tempel der Natur.
Heute soll kein Auge trübe,
Klage nicht hienieden sein.
Jedes Wesen soll der Liebe
Wonniglich, wie wir, sich freu'n.

Singt den Jubel, Schwestern, Brüder!
Festgeschlungen Hand in Hand!
Singt das heiligste der Lieder,
Von dem hohen Wesenband!
Steigt hinauf am Rebenhügel,
Blickt hinab ins Schattental!
Überall der Liebe Flügel,
Wonnerauschend überall!

Liebe lehrt das Lüftchen kosen
Mit den Blumen auf der Au,
Lockt zu jungen Frühlingsrosen
Aus der Wolke Morgentau;
Liebe ziehet Well' an Welle
Freundlich murmelnd näher hin,
Leitet aus der Kluft die Quelle
Sanft hinab ins Wiesengrün.

Berge knüpft mit eh'rner Kette
Liebe an das Firmament,
Donner ruft sie an die Stätte,
Wo der Sand die Pflanze brennt;
Um die hohe Sonne leitet
Sie die treuen Sterne her,
Folgsam ihrem Winke gleitet
Jeder Strom ins weite Meer.

Liebe wallt in Wüsteneien,
Höhnt des Dursts im dürren Sand,
Sieget, wo Tyrannen dräuen,
Steigt hinab ins Totenland;
Liebe trümmert Felsen nieder,
Zaubert Paradiese hin,
Schaffet Erd' und Himmel wieder
Göttlich, wie im Anbeginn.

Liebe schwingt den Seraphsflügel,
Wo der Gott der Götter wohnt,
Lohnt den Schweiß am Felsenhügel,
Wenn der Richter einst belohnt,
Wenn die Königsstühle trümmern,
Hin ist jede Scheidewand,
Edeltaten heller schimmern
Reiner denn der Kronen Tand.

Mag uns jetzt die Stunde schlagen,
Jetzt der letzte Odem weh'n,
Brüder, drüben wird es tagen!
Schwestern, dort ist Wiederseh'n!
Jauchzt dem heiligsten der Triebe,
Die der Gott der Götter gab,
Brüder, Schwestern, jauchzt der Liebe,
Sie besieget Zeit und Grab.