Frühlingsgesang - Hermann Rollett

Das Leben ist erstanden
Mit Glanz und Frühlingspracht -
Das hat aus starren Banden
Die Liebe frei gemacht.

Die Blütenkeime treiben
Zum Himmel unbewußt —
Wer mag zu Hause bleiben,
Wenn draußen solche Lust!

Lebt wohl, ihr welken Blätter,
Ihr Worte kalt und grau -
Lebendiges Geschmetter
Lockt nun in grüne Au.

Leb wohl du tote Feder
Mit deinem schwarzen Gift -
Geweihtere hat jeder
Zaunkönig auf der Trift.

Viel größre Weisheit flüstert
Wohl jedes Blatt am Baum,
Als mir entgegendüstert
Aus engem Bücherraum.

Leb wohl, leb wohl Gesinge,
Vom Gänsekiel geweiht,
Leb wohl, du tote Schwinge,
Du Bücherseligkeit! —

Doch kehr ich einmal wieder,
Wenn Strauch und Baum entlaubt,
Dann seh ich traurig nieder
Mit tiefgesenktem Haupt.

Dann will ich wieder blättern
In sehnsuchtvoller Qual,
Ob noch nicht aus den Wettern
Befreit der Sonnenstrahl;

Ob noch nicht aufgeschossen
Des Geistes grüne Saat,
Ob noch nicht, glanzumflossen,
Der Völkerfrühling naht.

Dann will ich wieder singen
Der Sehnsucht vollen Drang -
Mit toten Federschwingen
Lebendigen Gesang.