Das losgerissene Blatt - Johann Jakob Reithard

Vom Baume fortgetrieben,
Irrt ein verstürmtes Blatt,
Das all' sein grünes Lieben
In Schmerz verwandelt hat.

Es denkt im trüben Wandern -
Ein stiller, fremder Gast -
An all' die grünen Andern,
An Wurzel, Stamm und Ast,

Und an den Zweig, den schlanken,
Der mit dem Winde stritt,
Und flüstert in Gedanken
Die Laubgebete mit;

Und denkt, wie oft es schweigend
Den Lebensquell belauscht,
Der, aus der Tiefe steigend,
Den ganzen Baum durchrauscht,

Und wie in süßen Träumen
Sich's hob auf seinem Schoß,
Wenn aus den Sternenräumen
Der Tau herniederfloß;

Und wie es Schmelz und Düfte
Aus tausend Kelchen sog,
Und wie der Wind es prüfte,
Der Fink es niederbog -

Und Sehnen, tiefes Sehnen
Durchdringt das arme Laub;
Es wirbelt unter Tränen
Durch aufgestürmten Staub.

Und fliegt, vom Sturm getragen,
Durch's Fenster an ein Herz,
Das unter bangem Schlagen
Erliegt dem Todesschmerz;

Ach, an ein Herz, das trauernd
Der Jugendzeit gedenkt,
Vom Winterfroste schauernd
Sich in den Lenz versenkt;

In jenen Lenz voll Segen,
Voll Leben, Lust und Lieb',
Aus dessen Blütenregen
Verrat und Leid es trieb,

Und das - in Gram gebrochen,
Verkümmert, lebenssatt -
Vergeht im letzten Pochen,
Ein losgeriss'nes Blatt.