Mittsommerabendlied - Wilhelm Jordan
Wie sich Lust mit leiser Klage
Wunderbar im Herzen mischt
Wann der längsten Sommertage
Spätes Abendrot erlischt!
Goldne Dämmerstreifen säumen
Nordwärts nur den Erdenrand;
Lichtvoll über dunkeln Bäumen
Ist der Himmel ausgespannt.
Seltne Sterne nur durchstrahlen
Bleich die glanzgetränkte Luft;
Aus weit offnen Rosenschalen
Steigt der Erde Opferduft.
Doch die Blüten sind gefallen,
Früchte schwellt die Juniglut;
Die verstummten Nachtigallen
Sorgen schon für junge Brut.
Ob der längste Tag vergangen,
Ob das Jahr sich wieder neigt,
Ob verwelkt des Frühlings Prangen,
Ob des Vogels Brautlied schweigt:
An dem Werk der ew'gen Dauer
Webt in Lüften, Wald und Flur
Selbstvergessen ohne Trauer
Weiter alle Kreatur.
Nur des Menschen Herz verzichtet
Niemals ohne Widerstreit,
Nur die Menschenseele dichtet
Eine Lenzesewigkeit.
Denn dies Herz vermag zu blühen
Wann sich längst das Leben neigt,
Diese Seele jung zu glühen
Wann der Herbst die Locken bleicht.
Herzensblüten, Seelengluten,
Hinter Nordens goldnem Rand,
Jenseits ferner Meeresfluten
Such' ich euch ein Märchenland.
Drüben dürft ihr euch entfalten,
Drüben in der Sehnsucht Reich
Lass' ich euch gewährend walten,
Selbst verjüngt und göttergleich.
Wirklich nun dahin zu schweben
Lockt der Himmel wunderklar
Und ich muß die Arme heben –
Ach, sie sind kein Flügelpaar
Und der Lust ist leise Klage
Tief im Herzen beigemischt
Wann der längsten Sommertage
Spätes Abendrot erlischt.